(De) Ein Metallgitter trennt das Publikum von zwei dahinter ausgestellten Lebewesen. Soll diese Schranke die Zuschauer vor dem Tier schützen? Oder vor dem Menschen? Oder aber: Soll sie die beiden Lebewesen vor den Zuschauern schützen? Sind die beiden eingepfercht, oder sind wir ausgepfercht? Ich begegnete einem Hund, einem selbstbeherrschten, selbstbewussten, ohne Leine laufenden. Wir unterhielten uns auf dem Bürgersteig, wobei ich erfuhr, dass der Hund im Jahr 1974, wenn auch nur am Rande, an der …
(De) Ein Metallgitter trennt das Publikum von zwei dahinter ausgestellten Lebewesen. Soll diese Schranke die Zuschauer vor dem Tier schützen? Oder vor dem Menschen? Oder aber: Soll sie die beiden Lebewesen vor den Zuschauern schützen? Sind die beiden eingepfercht, oder sind wir ausgepfercht?
Ich begegnete einem Hund, einem selbstbeherrschten, selbstbewussten, ohne Leine laufenden. Wir unterhielten uns auf dem Bürgersteig, wobei ich erfuhr, dass der Hund im Jahr 1974, wenn auch nur am Rande, an der berühmten New Yorker Performance von Joseph Beuys teilgenommen habe. Nachdem der Künstler nach Düsseldorf zurückgekehrt war, habe die Galerie nämlich ein Treffen zwischen diesem Hund und dem Coyoten organisiert. Das Event sei allerdings kein Publikumsmagnet gewesen.
„Ein Glück für mich“, sagte der Hund, denn die beiden Tiere hätten wenig gemeinsam außer ihrem Unbehagen im Galerieraum gehabt, es sei auch zu Verständnisschwierigkeiten miteinander gekommen. Der Coyote habe darauf bestanden, seine Rolle bei der Aktion als die eines Gasts zu bezeichnen, was zu der Zeit als fehlerhafte Wortwahl aufgefasst worden sei. „Das Wort blieb wie eine Klette hängen“, erklärte der Hund. „Ich hab’s nie vergessen können. Vielleicht hat der Coyote das Visitationsmäßige und Vergängliche hervorheben, ein räumliches oder zeitliches Woanders evozieren wollen. Dies würde dem Beuys’schen Versuch entsprechen, das Amerika der Gegenwart zu entzaubern, indem er dessen indigene Vorgeschichte heraufbeschwor – jene Mythologie, deren lebendiges Sinnbild der Coyote eben war. Der Begriff Gast implizierte indes auch: ‚Ich bin nicht auf immer und ewig hier.‘ Das Wort stand wohl für die widerwillige Einwilligung des Tieres in seine Rolle im menschlichen Diskurs.“
Aber: Ich paraphrasiere. Keine fünf Minuten hatten wir miteinander geredet, als der menschliche Gefährte des Hundes um die Ecke kam und unsere Unterhaltung unterbrach. Und obwohl ich es gerne möchte, sind wir einander seitdem nie begegnet. Die Galerie am West Broadway 409 ist geschlossen. Der Hund, der Einzige, der mit dem Coyoten gesprochen habe, hat zweifellos keine Aufzeichnungen von ihrem Gedankenaustausch gemacht, und meiner Nacherzählung aus zweiter Hand fehlt das Geistreich-Witzige am Bericht des Hundes. Im Mai 2019 jährt sich zum fünfundvierzigsten Mal die Aktion I like America and America likes me. Der schamanische Mythos von Beuys ist nach wie vor im Aufstieg begriffen, während der Gast weiterhin abwesend und der Hund vor aller Augen versteckt ist.
Eine zweifach gezogene Linie bildet eine – imaginäre – Grenze zwischen uns und dem Künstler und den Coyoten, außerhalb und jenseits.
Wie einst Beuys, spielt auch Helen Mirra die Triangel, obwohl sie sich vorzugsweise in Grün, nicht in Grau kleidet. Wir trinken Tee auf ihrer Veranda im Norden Kaliforniens und blicken dabei auf plattgedrücktes Gras, wo, so sagt sie, eine Rehfamilie zu schlafen pflegt. Hier beschränkt sich das Meditieren nicht auf gewisse Stunden und Zeiten. Mirra beobachtet die Tiere in den Pausen zwischen ihren beiden Haupttätigkeiten (abgesehen vom Schlafen): dem Gehen und dem Weben. Wenn sie sich dabei ertappt, ins diskursive Denken abzuschweifen, fokussiert sie sich wieder aufs Atmen. Zwischen dem 3. und dem 17. Mai hat sie vor, in den Brandzonen außerhalb des Yosemite-Nationalparks wandern zu gehen.
Das Erreichen und Ausweiten von mettā gehört zu den primären Meditationspraktiken und -zielen des Buddhismus. Obwohl der Seelenzustand oft als eine „freundlich-wohlwollende Haltung“ übersetzt wird, erklärt Mirra, dass mettā in ihrem Verständnis eher „Freundlichkeit“ bedeutet. „Freund“: ein schlichtes, aber keineswegs einfaches Wort, aus der Wurzel mhd. vriunt, got. frijôn (lieben) hergeleitet, etymologisch verwandt mit frei. Ich versuche, mir mettā vorzustellen, vermag es aber nicht: meine Teetasse, meine Lehrerin, die Rehe, die Flächenbrände jenseits des Hügelfirsts, der Pazifische Ozean.
George Olken
Übersetzt von: Richard Humphrey