(De) Genocide in Americas
Für viele zeitgenössische Künstler stellen die Konfrontation und die Transgression wesentliche Momente ihres künstlerischen Schaffens dar. Indem sie ihre Arbeiten auf diesem konfliktreichen Boden entstehen lassen, verleihen sie ihnen letztendlich etwas dauerhaft Kämpferisches, aus dem sie – auf bald schroffe, bald imponierende Art und Weise – eine schier endlose Palette an Selbstbehauptungsstrategien und -positionen zu gewinnen verstehen. Das so Geschaffene gestaltet sich gemäß ästhetischen und moralischen Fragestellungen, stiftet aber eine in der eigenen Narrativität gefangene Identität, die uns der wundervollen Teilnahme an der Bandbreite künstlerischen Denkens beraubt.
Dieser Zwickmühle entkommt Paulo Nazareth, indem seine das Innere nach außen kehrende Logik die Geschichten, die ihm unterwegs auf Wanderschaft begegnen, interpretiert und zu einem sozialen Zusammenhangsgeflecht werden lässt, in dem er durch Kontemplation die Zeitebenen und -läufe subtil neu justiert. Aus diesem Kontemplativen, dem wohl wichtigsten Moment seines Schaffens, entsteht die kognitive Bedeutung, die ihn über alle Dissonanzen hinweg auf eine spirituelle Ebene emporhebt, auf der seine Ideen sich formen können. Die von Nazareth erkannten Zusammenhänge sind in einer Sphäre gegenseitiger Transparenz beheimatet, wo eine Art Radar unsere Gleichgültigkeit aufspürt und uns auf das unterwegs Vergessene, Außer-Acht-Gelassene aufmerksam macht.
In der Ausstellung “Genocide in Americas” überquert Paulo Nazareth quasi einen der Flüsse, auf denen wir – der Zeitläufe und der menschlichen Tragödien nicht eingedenk – ruhig vor Anker liegen. Auf die ihm eigentümliche, luzide Art bündelt er Handlungen und Gedankengänge, um erzählerisch die diversen Genozidmodelle zu umreißen, welche die Geschichte Süd- und Nordamerikas verunstaltet haben und sich tagtäglich in paradoxen Konturen festigen. Von der im Zuge des Kolonialisierungsprozesses stattfindenden Auslöschung bis hin zu der Versklavung der schwarzen Afrikaner, die gewaltsam an den Neuen Kontinent gebracht und so nicht nur ihrer familiären und spirituellen Bindungen, sondern auch ihres fundamentalen Menschseins beraubt wurden – an solche, entlang dieser befleckten Chronologie verortete Themenkreise erinnert uns Nazareth andeutend-feinfühlig.
Seine Video-Arbeiten erlauben es uns das Einsame und erschreckend Gewaltätige der modernen Großstadt nachzuempfinden. Der in ihnen artikulierte Protest hallt in der Stille nach, aber findet in unserer Seele einen Widerhall. Die von ihm geschaffenen Objekte, die gemeinhin auf strahlend weißem Papier angeordnet sind, damit wir das Reiche an dem vordergründig Schäbigen erkennen können, lassen uns über die Logik der Kapitalaneignung, sowie über eine Identität und Kultur, die uns nicht mehr gehören, nachdenken. Eine schlichte, leere Papiertüte gelangt in der veredelnden Symbolik des Künstlers zu neuer Bedeutsamkeit, indem dieser danach trachtet, dem Entweihten und zwecks Kommerzialisierung Genormten den Status des Sakralen zurückzugeben. Die Steinigung dieser Objekte durch den Künstler ist eine qualvolle, aber wirklichkeitsgetreue Handlung, die darauf zielt, die adäquateste Wiedergutmachung des so Geschädigten herauszufinden.
Der erhellend recherchierende Nazareth führt uns überdies durch die ganze Bandbreite dieser postkolonialen Erbschaften, zu denen auch die alarmierend-unmenschlichen Statistiken von Morden an Schwarzen sowie an gemischtrassigen und idigenen Menschen gehören, die in mehreren Ländern Süd- und Nordamerikas, zumal in Brasilien, zur Routine geworden sind. So wird auch Brasilien fokussiert, in dem die Polizeigewalt (die mit jener der “Captães-do-mato” gleichzusetzen ist) von einer Elite sanktioniert wird, die so der Auslöschung marginalisierter Völker Tür und Tor öffnen. In einem informativen, wahrhaft einmaligen Prozess gelingt es dem Künstler – oft humorvoll –, die Irrwege einer Kultur, die zur Karikatur ihrer selbst wird, nachzuzeichen.
Quasi als Verkündung der Reinheit seines Geistes –, die sich vielleicht in seiner Ernennung zum Hohen Priester der Guarani-Kaiowá-Indianer mit dem Auftrag, deren orale Kultur zu vermitteln, widerspiegelt – versucht Nazareth, dichte Energien umzuwandeln, um ihnen eine lyrische Eigenschaft zu verleihen. Die indigenen Indianer, die sich 2013 in Venedig aufhielten, um den Künstler im Rahmen seiner Installation zu vertreten, waren keineswegs bloße Zierde oder Teile einer Performanz, wie andauernd behauptet wurde. In erster Linie sind Valdomiro Flores und Genito Gomes Menschen, die sich dorthin begaben, um den Passanten ihre Geschichte zu erzählen. Der Austausch gestaltete sich höchst respektvoll und authentisch, zumal sich Valdomiro, der eine spirituelle, religiöse und philosophische Führungsfigur ist, dessen bewusst war, dass er durch Verlassen der von seinen Ahnen geweihten Länder Räume schaffen würde, in denen ein neuer Blick auf die Welt Platz hätte. Nazareth lässt uns verstehen, dass beiden Seiten Respekt zusteht. Auf diesen Edelmut, der für diejenigen, die in der Abstammung eine Grundlage für das Überleben der Menschheit sehen, charakteristisch ist, wird im Dialog näher eingegangen. Die Ausstellung “Genocide in Americas” setzt sich zum Ziel, Empfindungen zu wecken, die zwar an Venedig anknüpfen, aber darüber hinaus gehen, um dem Betrachter neue Perspektiven zu eröffnen. Damit die besagten Perspektiven verstanden werden, bedarf es der Kenntnisnahme der kontemplativen Dimension, in der Paulo die orale und visuelle Tradition seines Landes neu konstituiert hat. Dies führt dazu, dass wir uns etwa mit den Gesichtszügen, mit der schweigensschweren Stille und mit den Gedanken einer Mutter identifizieren, die vergeblich nach dem Sinn der Entführung ihres Kindes durch die guatemalische Armee sucht. Dieser Berichterstattung wohnt eine Klage inne, die, wenn sie uns nicht lahm legt, uns zur Stellungnahme zwingt. So entdecken wir den Schlüssel zu einem Flurtrakt, der nie versteckt worden war. Indem er uns Zugang zu seinen Nachforschungen gewährt, führt uns Nazareth wohlwollend zu einer Quintessenz, die analog zu der seiner Vorfahren ist, und uns so auf eine andere Ebene emporsteigen lässt.
Paulo Nazareth ist zunächst Intellektueller, der die Vorgehensweisen der europäischen Akkulturation, die seine eigene Kultur sowie die Erziehung seiner Landsleute edierend geprägt haben, entmythologisiert. Die Grundlage seines wissenschaftlichen Denkens bilden die abstrakten Netzwerke, die er – behutsam, barfüßig – durchläuft. Wer die diversen Bereiche der jetzigen Ausstellung durchdringt und ergründet, wird unserer eigenen Makel, unseres eigenen Versagens etwas bewusster – sei es durch Geschichtskenntnis, sei es durch Identifizierung mit einem Kampf, der vor allem und im weitmöglichsten Sinne ein menschlicher ist.